Achtsam über die Alpen

Dass im Sommer 2021 mein lang gehegter Traum einer Alpenüberquerung Realität wurde, verdanke ich einem kleinen, türkisen Stein, auf dem „Glück“ steht. Er ist vor sechs Jahren über eine Freundin zu einem gewissen Tom Felder gewandert, den ich damals noch nicht kannte. Nur ein Foto des Steins erreichte mich damals über Facebook, Tom hatte ihn auf eine über 40tägige Wanderung von Wien nach Innsbruck mitgenommen.

Der Freude folgen

Und dann lernte ich Jahre später, im Mai 2021, „zufällig“ eben jenen Tom kennen und er identifizierte mich schnell als „Steine-Ines“. Dann erzählte er mir nicht nur, dass er das Foto des Glücks-Steins gerade für einen Vortrag verwendet hatte, sondern auch, dass er im Sommer eine Alpenüberquerung guiden würde. Ich landete auf seiner Webseite, es ließ mich nicht mehr los und siehe da – es war noch genau ein Platz für mich frei. Ganz klar, dass ich den buchen musste!

Geführt in vielerlei Hinsicht

Als ich anfing, FreundInnen und Familie von meiner geplanten Alpenüberquerung zu erzählen, stellte ich fest, dass ich viele Fragen nicht beantworten konnte. Wie genau ist die Route? Wie viele TeilnehmerInnen gibt es? Wer sind die? Schlafe ich in einem Einzelzimmer? Wie viel kostet das Ganze in Summe? Wo genau ist der Ausgangspunkt? Wo der Endpunkt? Über welche Berge geht’s drüber? Wie geht das Corona und speziell für mich als Ungeimpfte und der Testerei? Wie schwer ist Dein Rucksack? All das war mir herzlich egal und spielte für mich keine Rolle. Ich wusste einfach, dass es passen würde. Genau wie es war. Egal wie. Ich war einfach bereit, mich hundertprozentig hinzugeben und einzulassen. Eine gute Entscheidung!

Annehmen und Abgeben

Ich fasste den Plan, jedem der 8 Tage eine Intention wie „Freude“, „Dankbarkeit“ oder „Loslassen“ zu widmen. Für den ersten Tag hatte ich vorab schon „Hingabe“ gewählt – und die brauchte ich dann auch. Denn die Tour wurde wegen Schlechtwetters und Überflutungen einen Tag nach hinten verschoben und die Route entsprechend abgeändert. Wir starteten in Lofer statt Golling und Sonntag statt Samstag. Eine meiner interessantesten Tagesintentionen, nämlich „Abgeben“ lieferte mir dann eine Mitwanderin, die auf Geheiß unserer Guides Valeria & Tom ihren Rucksackinhalt auf uns alle verteilte, um einen anstrengenden Anstieg leichten Gepäcks besser zu bewältigen. Für sie eine Überwindung, für uns eine Selbstverständlichkeit.

Das Glück der Fremdbestimmung

„Abgeben“ wollte auch ich üben. Mir wurde bewusst, wie selten ich wirklich so vertrauensvoll alles abgebe, wie ich es auf der Wanderung tat. Die einzige Entscheidung war, welches meiner 2 Shirts ich in der Früh anzog – pink oder blau. Sonst ließ ich mich führen, hatte oft keine Ahnung, wo wir genau waren, wo wir am Abend schlafen und wo essen würden und wann genau wir wo sein würden. Ich sah nie auf die Uhr. Eine Wohltat. Denn als Selbstständige und Mutter vergeht seit Jahren kaum ein Tag, an dem ich nicht Entscheidung über Entscheidung treffen muss. Kleine und große, wichtige und unwichtige, für mich und für andere. Als die Kinder noch klein waren, sehnte ich mich nach der verlorenen Selbstbestimmung und jetzt genoss ich diese wundervolle Fremdbestimmung, dieses Eingebettet-Sein in perfekt durchkomponierte Tagesabläufe, umgeben von Fürsorglichkeit, Achtsamkeit und Wohlwollen. Ein Geschenk.

Die Zartheit einer Gruppe

Als wir Mitte der Woche gemeinsam beim Abendessen in Osttirol eine Zwischenbilanz zogen, bezeichneten uns Valeria und Tom als „zarte Gruppe“. Und wirklich war der Umgang unter diesen so unterschiedlichen vierzehn Menschen so liebevoll und achtsam, wie ich es selten erlebt habe. Kein Jammern, kein Lästern, kein Konkurrieren. Dafür Zusammenhalt, viele tiefsinnige und ehrliche Gespräche, aber auch viel Spaß und Leichtigkeit. Es schien sich jede/r im richtigen Moment zurückzunehmen und gleichzeitig bestmöglich auf die Gruppe einzulassen – und das im eigenen Tempo.

Geh-Meditationen

Apropos eigens Tempo: Besonders gut getan hat mir das moderate Gehtempo. Mir wurde bewusst, wie oft zuvor ich reschen Schrittes auf Berge gerannt war, um mir selbst oder anderen etwas zu beweisen, oder weil ich einem oft nicht mal wichtigen Zeitplan stur folgte. Aber dieses achtsame, genussvolle, stetige, langsame Gehen über so viele Tage war neu und wundervoll für mich. Ich hatte Zeit für die Blumen am Wegesrand, für den Fernblick, für inspirierende Gespräche und intensive Körperwahrnehmung. Dazu ging ich – auch das war neu für mich – meist ohne Stöcke und auch deswegen vorsichtiger und achtsamer. Jeder Schritt war ein Schritt im Jetzt.

Wahrnehmen, was ist

Wenn man im Moment ankommen will, beginnt man am besten damit, alles um sich herum wahrzunehmen. Was sehe ich, was fühle ich, was rieche ich, was spüre ich? Was wächst am Wegesrand und welche Tiere kann ich entdecken? Dieses Spiel habe ich auf der Wanderung oft stundenlang gespielt und dabei in aller Ruhe einen Schritt nach dem anderen getan. Bei einem zähen, steilen Forststraßen-Anstieg hob ich einen kleinen Stein auf, der mir dann wie von selbst zu einer Geh-Meditation verhalf: 5 Schritte, Stein von der linken in die rechte Hand, 5 Schritte, Stein von der rechten in die linke Hand,… 1, 2, 3, 4, 5… Und irgendwann war ich oben ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie weit es noch wäre oder wie anstrengend es gerade war.

Wo ein Wille…

Irgendwann hat es wahrscheinlich in dieser anstrengenden Woche jede/n von uns einmal erwischt. Der Moment, an dem man einfach nicht mehr weitergehen will oder glaubt, man kann nicht mehr, ist hart. Ich hatte das Glück, mich immer super fit zu fühlen, mein Rücken schmerzte nur einmal kurz und sogar meine hirschtalggesalbten, empfindlichen Prinzessinnenfüße wollten erst am vorletzten Tag mit Blasenpflastern versorgt werden. Doch dann wurde mir am Abend vor der Schluss-Etappe plötzlich übel. Richtig übel. Ich überstand den Abend mit dem bittersten aller Südtiroler Magenbitter („Alpler“), klarer Suppe und trockenem Schüttelbrot und wälzte mich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere.

…da ein Weg

Am nächsten Tag war es nicht viel besser und der heiße Anstieg im weißen Dolomitengestein Richtung Drei Zinnen war eine Herausforderung. Doch Aufgeben war keine Option für mich. Statt dessen sagte ich mir bei jedem Schritt „Es wird besser, es wird besser, es wird besser,…“ Ein von Valeria ausgegrabener und unter die Oberlippe geklemmter Meisterwurz (richtig bitter!), Wacholderbeeren und Notfalltropfen halfen zusätzlich. Und siehe da, es wurde besser. So viel besser, dass ich später auf der Drei Zinnen-Hütte fette italienische Pizza und Bier genießen konnte. Das hätte ich mir in der Früh auch mit meiner rosarotesten Brille nicht vorstellen können. Wenn man etwas wirklich will, kann man unglaubliche Kräfte mobilisieren und bekommt oft all die Hilfe, die man gerade braucht.

Fließen statt kämpfen

So vieles hätte es jeden Tag gegeben, mit dem ich in Widerstand hätte gehen können. Vom reibenden Schuh über den Regenguss bis zur Fliege im Zimmer, Einschlafschwierigkeiten oder mühsamen Telefonaten mit Zuhause. Doch es gelang mir, alles einfach fließen und sein zu lassen. Zu glücklich und dankbar war ich, diese Tour überhaupt machen zu können. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass immer ich die Entscheidung treffen, wie ich es haben will: leicht oder schwer, entschleunigt oder übereilt, verbissen oder entspannt, lustig oder larmoyant.

Gipfelglück und Zauberwald

Ich sagte zwar so gut wie jeden Tag „Das ist mein Lieblingsweg!“, weil die Schönheit der Berge immer wieder aufs Neue überwältigend war, aber zwei persönliche Highlights auf der Tour gab es doch: Zum einen das gemeinsame Gehen der letzten paar Meter bis zum Gipfelkreuz der Drei Zinnen-Hütte – wir hielten uns zu vierzehnt an den Händen und schritten in einer breiten Reihe zu unserem Ziel. Was für ein erhebender, bewegender und glückseliger Moment! Und zum anderen unsere Abschlussrunde auf einer märchenhaften Wald-Lichtung, die mir auch sicher in ewiger Erinnerung bleibt. Wir setzten uns im Kreis auf die Wiese, unsere Guides zauberten drei Flaschen Rotwein aus dem Rucksack, und dann ließen wir jeden einzelnen Tag gemeinsam Revue passieren. Jeden An- und Abstieg, jede Hütte und jedes besondere Ereignis vom über den Weg huschenden Murmeltier bis hin zum heranbrausenden Gewitter. Unglaublich, wie viel wir in sieben Tagen erlebt hatten und wie sehr mir meine MitwanderInnen in dieser Zeit ans Herz gewachsen waren.

Güldene Überraschung

Mit Steine-Sammeln hab ich mich übrigens sehr zurückgehalten, mein Rucksack war schon schwer genug 😉 Aber ein paar haben sich natürlich aufgedrängt. Ein kleiner, matt hellgrün schimmernder Fluss-Fund hat sogar zwei kleine Goldpunkte, wunderschön! Ich fand ihn am Tag mit dem Motto „Überraschung“ und sah erst im Bus sitzend, wie besonders er war. Zwei meiner Steine-Funde habe ich schon in Bibelsteine verwandelt, einer trägt nun den goldenen Schriftzug „geerdet“, und die anderen warten noch auf ihre Bestimmung…

Die Eckdaten der Alpenüberquerung  18.-25. Juli 2021

In sieben Tagen wanderten wir von Lofer im Salzburger Land über Kärnten und Osttirol bis nach Südtirol zu den drei Zinnen, um dann von Lienz die Heimreise anzutreten. Wir überquerten die Leoganger Steinberge, erklommen geschichtsträchtige Pässe zwischen den 3.000er-Gipfeln der Hohen Tauern und überschritten den Alpenhauptkamm. Mit grandiosen Ausblicken auf die mächtigen Gletschergebiete des Großvenediger- und Glocknermassivs ging es über die Lasörlinggruppe und die Defregger Alpen Richtung Ziel: den Drei Zinnen in Südtirol.  Im Schnitt waren es jeden Tag gut 1000 Höhenmeter hinauf und auch wieder 1000 Höhenmeter hinunter, weil wir in Gasthäusern und auf Bauernhöfen im Tal übernachteten, und nur einmal hoch oben am Berg – im Glockner Haus. Bus-, Taxi und Zugfahrten dienten als Transfers zwischen den Überquerungen.

Eine Herzensempfehlung möchte ich für unsere Tour-Guides Valeria Hochgatterer und Thomas Felder aussprechen: Die beiden sind ein absolutes Dream-Team! Ich habe noch nie eine achtsamere, liebevollere und professionellere Bergbegleitung erlebt. Was sie sonst noch anbieten, findest Du hier:
Valeria Hochgatterer www.schrittweite.at
Thomas Felder www.thinkoutside.at

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